Autistische Perspektiven: Kunst und Selbstverwirklichung - wann wurde ich zu mir?
- Neudi

- 16. Nov.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 7 Tagen
Bis vor zwei Jahren war ich nicht neurodivergent. Zumindest hätte ich das nicht vermutet. Ja, ich war schon immer irgendwie anders. Ich hatte keine richtig guten Freunde... Naja bis auf einen. Und diesen unglaublich wichtigen Menschen habe ich geheiratet. Freunde zu halten fiel mir schwer. Immer fragte ich mich, ob ich "richtig" gelacht hatte, ob mein Kommentar unpassend war, ob man mir ansehen konnte, wer ich bin. Ruhe fand ich schon immer in der Kunst. Ich spielte viele Jahre lang Klavier, malte zuhause, nahm klassische Tanzstunden und besuchte Zeichen- und Fotografie-Kurse an der VHS. Mein beruflicher Werdegang verschlug mich dann weit weg von allem Musischen. Genauer: ins Gesundheitssystem.
Hier war ich viele Jahre lang glücklich, weil mein gutes Gedächtnis und meine schnelle Auffassungsgabe mich gut in meinem Job machten. Zudem fiel mir das Lesen meiner Patienten leicht. Aber das Maskieren hat einen Preis. Viele von euch werden ihn kennen. Depressionen und Suizidgedanken begleiteten mich fast täglich. Doch wie kam ich zu dem hier? Zu einem Kunst- und Life-Blog für neurodivergente Menschen, Angehörige und natürlich jeden anderen (Kunst)interessierten?

Der Tag, an dem ich Autistin wurde
Ich erinnere mich sehr gut, wann ich "plötzlich" im Spektrum war. Es war der Tag, an dem mir ein Autismus- und ADHS-Fragebogen für meinen vierjährigen Sohn zugesandt wurde. Eine sehr aufmerksame Erzieherin hatte meinen Exmann und mich zum Gespräch gebeten, da der kleine Mann in der KiTa auffälliges Verhalten gezeigt hatte. Natürlich hatte er vorher schon ein paar Besonderheiten, aber welche Mama geht sofort von Autismus aus? Ja, er brauchte feste Abläufe und es wurde schnell ungemütlich, wenn die Routinen durchbrochen wurden. Aber so geht es mir ja auch. Ist doch normal... War es wohl nicht. Bei meinem Sonnenschein fielen die Besonderheiten im Sozialverhalten auf. Weinte ein Kind, dann sagte er einfach ganz nüchtern: " Hör auf zu weinen, das ist mir zu laut." Nicht gerade der beste Weg, um Freunde zu gewinnen und zu halten. Und diese verflixte Ehrlichkeit. Wenn Sohnemann Jemandes Namen nicht kennt, dann redet er diese Person mit den passenden Adjektiven an. "Die dicke Frau ist wieder da!" Das tat der ehrenamtlichen Helferin mit Sicherheit weh. Aber für meinen Sohn war das nie eine Beleidigung, es war eine Beschreibung der für ihn prägnanteste Eigenschaft der Frau.
Da saß ich nun vor diesem Fragebogen und machte munter Kreuzchen. Und mit jedem Kreuz legte sich ein Schalter in meinem Kopf Stück für Stück um. Bis mir klar wurde, dass viele der Aussagen sehr gut auf mich passen. Wirklich, wirklich viele.
Die Termine der Diagnostik verstrichen und dann am 27.03.2023 stand es da. Schwarz auf Weiß: "F84.5G und F90.0G Hochfunktionaler Autismus und eine einfache Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung". Da hatten wir es. Und dann? Dann recherchierte ich, um den kleinen Mann bestmöglich unterstützen zu können. Ich kaufte mir Bücher und las Blogs. Ihr könnt euch vorstellen, was dann passierte. Nichtsahnend überflog ich einen Artikel, als eine Überschrift mich festhielt. "Warum so viele Frauen nicht diagnostiziert sind"... Ich las, verschlang den Artikel und danach war es mir irgendwie klar: Ich bin Autistin. Jede einzelne Besonderheit für autistische Frauen trifft auf mich zu. Derzeit trage ich alle Dokumente zusammen, um auf die Warteliste für eine Diagnostik zu kommen. Aber die Verdachtsdiagnose steht. Und eigentlich braucht man doch kein Papier, um zu wissen wer man ist... Oder? Irgendwie brauche ich die Sicherheit doch schriftlich. Dass ich nicht bescheuert bin und mir was zusammenspinne.
Kunst als Therapie
Seit der Diagnose meines Sohnes arbeite ich zunehmend auch an einer Verbesserung meiner Situation. Depressionen habe ich jetzt schon viele Jahre. Und wer selbst betroffen ist, weiß am besten, wie schwer es ist etwas auf die Reihe zu bekommen. Trotz Allem habe ich im Januar dieses Jahres ein berufsbegleitendes Studium begonnen. Von den Inhalten her ist es kein Problem, aber meine beruflichen Umstände rauben mir die letzte Kraft. Chaos, Hinterhältigkeit und Missgunst machen es täglich schwerer, morgens aufzustehen. Das Gesundheitssystem ist nicht der Ort, an dem ich bis zur Rente arbeiten kann. Falls ich diese denn dann noch erlebe. Aber was kann ich tun? Ich bin müde von diesen ganzen Kontakten, die mir keine Energie spenden, sondern sie im Handumdrehen verschlingen. Leider habe ich ein früheres Studium abgebrochen. Auf die Thematik gehe ich aber in einem anderen Beitrag ein. Also habe ich nicht viele Optionen. Und deshalb bin ich heute hier. Weil ich meine Liebe zur Kunst in für mich heilsame Bahnen lenken möchte. Ich erwarte nicht, mit der Kunst reich zu werden. Ich erwarte, dass mir die Kunst hilft weitermachen zu können. Seit ich mich entschlossen habe nebenberuflich Selbstständig zu werden, bin ich so Feuer und Flamme und im Hyperfokus. Gestern habe ich meine Gewerbeanmeldung abgegeben und meine Steuernummer beantragt. Oh, ich bin so aufgeregt!!! Und das möchte ich mit euch Allen teilen.

Jetzt noch ein paar Fakten, warum ich das hier mache:
Stressabbau: Kreatives Schaffen kann helfen, Stress abzubauen und ein Gefühl der Ruhe zu fördern. Dies ist besonders wichtig für autistische Menschen, die oft mit sensorischen Überlastungen kämpfen.
Förderung der Feinmotorik: Durch das Malen, Zeichnen oder Basteln können autistische Menschen ihre motorischen Fähigkeiten verbessern, was sich positiv auf ihre alltäglichen Aktivitäten auswirken kann.
Selbstbewusstsein stärken: Kunsttherapie kann das Selbstbewusstsein stärken, indem sie den Klienten ermutigt, ihre kreativen Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln.
Beispiele für autistische Künstler
Es gibt viele talentierte autistische Künstler, die durch ihre Werke inspirieren und auf die Vielfalt der autistischen Erfahrungen aufmerksam machen. Hier sind einige bemerkenswerte Beispiele:
Temple Grandin: Eine bekannte Autistin, die nicht nur als Wissenschaftlerin, sondern auch als Künstlerin (Autorin) tätig ist. Ihre Werke reflektieren ihre einzigartige Sichtweise auf die Welt und ihre Erfahrungen mit Autismus.
Stephen Wiltshire: Ein britischer Künstler, der für seine beeindruckenden Zeichnungen von Städten bekannt ist. Er hat die Fähigkeit, komplexe Stadtlandschaften aus dem Gedächtnis zu zeichnen, was seine außergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten zeigt.
Yayoi Kusama: Eine international gefeierte Künstlerin, die ihre Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen und Autismus in ihren Arbeiten verarbeitet. Ihre charakteristischen Punkte und Installationen sind Ausdruck ihrer inneren Welt.
Kreative Ausdrucksformen
Es gibt viele verschiedene kreative Ausdrucksformen, die Menschen wie uns oder euren Lieben helfen können, sich selbst zu verwirklichen. Hier sind einige der beliebtesten:
Malerei und Zeichnung
Malerei und Zeichnung sind oft die ersten kreativen Ausdrucksformen, die Menschen ausprobieren. Sie bieten eine direkte Möglichkeit, Emotionen und Gedanken visuell darzustellen. Autisten können durch Farben und Formen kommunizieren, was oft zu beeindruckenden und einzigartigen Kunstwerken führt. Auch ich habe schon immer viel gezeichnet. Das war tatsächlich auch meine erste Erfahrung mit der schaffenden Kunst.
Musik
Musik ist eine weitere kraftvolle Ausdrucksform. Viele autistische Menschen haben ein besonderes Talent für Musik, sei es im Singen, Spielen von Instrumenten oder Komponieren. Musik kann helfen, Emotionen zu verarbeiten und eine Verbindung zu anderen herzustellen.
Ich habe schon vor meiner Kindergartenzeit an einer musikalischen Früherziehung teilgenommen. Mit fünf Jahren bekam ich mein wunderschönes weißes Klavier von Kawai. Inzwischen habe ich "nur noch" ein E-Piano, aber das reicht auch, weil ich eh keine Zeit und Energie zum Spielen habe.
Theater und Performance
Theater und Performance bieten eine Plattform, um Geschichten zu erzählen und Emotionen auszudrücken. Autistische Menschen können durch Schauspiel und Tanz ihre Kreativität entfalten und gleichzeitig soziale Fähigkeiten entwickeln.
Schreiben
Das Schreiben kann eine therapeutische Methode sein, um Gedanken und Gefühle zu verarbeiten. Viele autistische Menschen finden in der Schriftstellerei eine Möglichkeit, ihre Perspektiven und Erfahrungen zu teilen. Auch in diesem Bereich bin ich aktiv. Allerdings schluckt das Schreiben von Romanen viel Zeit. Ich hoffe, im übernächsten Jahr mein erstes Buch veröffentlichen zu können.
Herausforderungen und Barrieren
Trotz der vielen Vorteile, die Kunst für autistische Menschen bietet, gibt es auch Herausforderungen und Barrieren, die es zu überwinden gilt:
Zugang zu Ressourcen: Oftmals haben autistische Menschen nicht den gleichen Zugang zu Kunstressourcen oder -programmen wie andere. Es ist wichtig, dass Gemeinschaften und Organisationen Möglichkeiten schaffen, um den Zugang zu Kunst zu fördern.
Vorurteile und Missverständnisse: Autistische Menschen sehen sich häufig Vorurteilen gegenüber, die ihre kreativen Fähigkeiten in Frage stellen. Es ist entscheidend, das Bewusstsein für die Vielfalt der autistischen Erfahrungen zu schärfen und die Wertschätzung für ihre Kunst zu fördern. Ich bin selber im Spektrum. Hier könnt ihr euch öffnen. Ansonsten findet ihr mich auch auf Facebook. Mein Account ist auf dieser Website verlinkt.
Sensorische Überlastung: Kunstumgebungen können für autistische Menschen überwältigend sein. Es ist wichtig, Räume zu schaffen, die sensorisch freundlich sind und Rückzugsmöglichkeiten bieten.
Die Rolle der Gemeinschaft
Die Gemeinschaft spielt eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung autistischer Künstler. Hier sind einige Möglichkeiten, wie Gemeinschaften helfen können:
Kunstprogramme: Die Einrichtung von Kunstprogrammen speziell für autistische Menschen kann helfen, kreative Talente zu fördern und soziale Interaktionen zu ermöglichen.
Ausstellungen und Veranstaltungen: Die Organisation von Ausstellungen, in denen autistische Künstler ihre Werke präsentieren können, trägt dazu bei, das Bewusstsein zu schärfen und Vorurteile abzubauen.
Mentoring: Die Bereitstellung von Mentoren, die autistischen Künstlern helfen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und ihre Karriere voranzutreiben, kann einen großen Unterschied machen.
Fazit
Ich möchte meine Liebe zur Kunst mit allen Menschen teilen, die sich in meinen Texten und Werken wiederfinden. Für mich bedeutet Kunst Entspannung, Ruhe, innere Kraft und die Möglichkeit, mein Innerstes in Farben und Formen ausdrücken zu können. Ich bedanke mich bei Allen, die bis hierher gelesen haben. Ihr seid großartig, so wie ihr seid. Wenn euch mein Blog gefällt, oder ihr Anmerkungen habt, dann lasst mir gern einen Gästebucheintrag da.

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